Besuch im Waidspeicher Erfurt

Es ist der 28. August 2024. 8:15 Uhr stehe ich am Westbahnhof. Meine Schulkamerad*innen aus dem Deutsch Leistungskurs warten gemeinsam mit mir auf den Zug nach Erfurt. In das Theater Waidspeicher soll es gehen. Das Puppentheaterstück heißt „Fesche Lola, brave Liesel“ von Heinrich Thies und dreht sich um zwei ungleiche Schwestern und deren verschiedener Lebenswege. Eine der Schwestern ist Marlene Dietrich. Ein Name, der mir vage bekannt vorkommt. Da ich zuvor schon einmal im Waidspeicher eine beeindruckende Aufführung gesehen hatte, freute ich mich auf den erneuten Besuch. Es war ein kurzer und schöner Spaziergang vom Bahnhof bis zum Theater. Wir waren nicht die einzige Schulklasse an diesem Vormittag, die völlig begeistert von der folgenden Leistung der Puppenspieler*innen und der Inszenierung seien sollten. Marlene Dietrich wurde 1901 in Berlin geboren. Lange vor mir, meinen Eltern und Großeltern. Und trotzdem ist dieses Stück und der behandelte Konflikt gerade jetzt aktueller und wichtiger denn je. Ein Konflikt, der nicht nur wie in diesem Stück zwei Schwestern spaltet, sondern dabei ist ein ganzes Land zu spalten. Marlene Dietrich verlässt als junge Frau Deutschland, um die begonnene Karriere als Lola im Stück „Der blaue Engel“ in Amerika voranzutreiben. Ihre Schwester hingegen bleibt in Deutschland und lebt das typische Rollenbild der deutschen Hausfrau im ländlichen Raum. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges unterstützt Marlene die Alliierten mit Auftritten auf der ganzen Welt. Während sie zunächst annimmt, dass ihre Schwester Liesel im KZ inhaftiert ist, erkennt sie bald, dass diese keine Insassin ist, sondern dass sie mit ihrem Mann am KZ Bergen-Belsen ein Kino für Wehrmachtssoldaten und SS-Offiziere betreibt. Sie zur Rede stellend, verleugnet Liesel die Schandtaten der Wehrmacht und stellt sich unwissend. Innerlich zerrissen, dass ihre eigene Schwester eine Mitläuferin des Nazi-Regimes ist, beginnt sie sich nach und nach von ihr zu distanzieren. Eine Distanz, die mit dem Fernbleiben von Marlene auf der Beerdigung ihrer eigenen Schwester ihren Höhepunkt nimmt.

Wie aber kann es sein, dass Menschen nicht sehen wollen, was um sie herum geschieht? Wie kann es sein, dass ganze Familien sich voneinander abwenden? Und wie kann es sein, dass ich das Gefühl habe, das alles wiederholt sich gerade? Fragen, die wir gemeinsam in der anschließenden Diskussionsrunde mit Schauspieler*innen und Dramaturg*in intensiv besprochen haben. Fragen, die uns alle nach dem Stück geschockt, berührt, aufgewühlt und nicht mehr losgelassen haben. Dabei spielte nicht nur die aktuelle Thematik eine große Rolle, sondern auch die fantastische Leistung der mit ihren Figuren verschmolzenen Puppenspieler*innen. Ich bin dankbar dafür, dass wir die Möglichkeit haben, solche Momente zu erleben, Erinnerungen wach zu halten und wünsche mir, dass wir aus den Fehlern der Geschichte lernen und diese nicht wiederholen. Ein Zug, der uns sicher nach Jena zurückbringt und nicht in einem Lager endet.

geschrieben von Maxim Morigerowsky