STATEMENT ZUR PODIUMSDISKUSSION AM 26. 10. 2009 von Gisela John (unserer damaligen Schulleiterin)
Unsere Schule ist ein Produkt des Umbruchs 1989. Damals führte der Wille, Gesellschaft und Schule zu verändern, Lehrer und Eltern zusammen. Erste Papiere wurden verfasst und es galt, aus den Schulen zu verbannen, was uns schon längst gestört und behindert hatte. Das schien einfach zu sein. Denn ein Sturm der Umwälzung erfasste uns alle – unser Leben und unsere Gesellschaft – und riss vieles mit sich fort. Doch was sollte die Leerstellen ausfüllen? Was wollten wir wachsen lassen? Strukturdebatten und innerschulische Reformversuche überlagerten sich. Schulberichte aus Holland und Deutschland über die Jenaplan-Pädagogik ließen uns aufhorchen. Sie gaben Anlass, uns genauer mit diesem pädagogischen Modell zu befassen, das der Reformpädagoge Peter Petersen an der Universitätsschule der Jenaer Universität entwickelt hatte, wohin er 1923 durch den sozialdemokratischen Minister Greil berufen worden war.
In seiner 1930 veröffentlichten Schrift „Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung“ („Großer Jenaplan“, Bd. 1) fanden wir folgenden Text. Ich zitiere: „Zu Beginn des Jahres 1925 traten mehrere Familien Jenas an mich heran mit dem Wunsche, ich möchte ihre Kinder, die bereits 4 bis 7 Jahre andere Schulen, höhere und Volksschulen der verschiedensten Art, besuchten, in die Universitätsschule übernehmen und mit ihnen nach den Grundsätzen der Neuen Erziehung eine neue Schulform entwickeln < … > Dieses Anerbieten gab mir die lange ersehnte Gelegenheit, die Idee einer ‚freien allgemeinen Volksschule‘ praktisch zu erproben. Denn nun vereinte die Schule ausgesprochene Hilfsschulkinder und Knaben und Mädchen, die zu den Bestbegabten der Stadt gehörten, Kinder beiden Geschlechts und aller Stände in günstigem Verhältnis; die Begabungen standen in größten Spannungen sowohl der Art wie der Qualität und Intensität nach.“ Zitatende.
Das schien ebenso zu unserer Situation zu passen wie Berichte ehemaliger Schüler der von Petersen geleiteten und bis 1950 bestehenden Jenaer Universitätsschule – Berichte von einer „gelebten Schule“, die nicht von irgendwelchen abstrakten Ideen und Systemen, sondern vom Lernen und Leben der Kinder her gedacht und gestaltet worden war. Das überzeugte uns sehr und führte zu dem Entschluss, auf dieser Grundlage eine neue, moderne, heutigen Erfordernissen entsprechende „Jenaplanschule“ zu gründen.
Das, was 1927 in Locarno als „Jenaplan“ bezeichnet wurde, beschrieb eine Schulpraxis nach den genannten Prinzipien. Es war aber beileibe kein fertiger „Plan“, wie der Name vermuten lassen könnte, kein einfach zu übernehmendes Konzept. Dieser „Jenaplan“ konnte für uns nur Ausgangspunkt und Arbeitsmodell für eine neu zu schaffende Schule sein, die an Petersens Gedanken anknüpfte, sie kritisch prüfte oder – wenn nötig – auch verwarf. Die damals begonnene Arbeit reicht von der Beschlussvorlage zur Gründung der Schule über deren erste Schritte und einen unterdes fast 20jährigen Gestaltungsprozess bis zu dem, was wir heute als den „neuen Jenaplan“ bezeichnen.
Wir haben 1990/91 – wohlgemerkt – auf die Jenaplan-Pädagogik zurückgegriffen, nicht auf den Namen Petersen. Wir wollten an ein faszinierendes und praktisch erprobtes Schulmodell anknüpfen. Auf keinen Fall jedoch wollten wir jemanden zum Namenspatron haben, von dem wir damals schon wussten, dass er sein Schulmodell – wenn auch vergeblich – zur Grundlage des NS-Erziehungssystems machen wollte und entsprechende Schriften verfasst hatte. Das war für uns ein moralisches Gebot. Aber es hieß keineswegs, dass deshalb – wie manche meinten – die aus einem ganz anderen Kontext stammende Jenaplan-Pädagogik diskreditiert sei. Das wurde und wird jedem, der sich mit dieser Pädagogik gründlich befasst, rasch klar.
Doch sei noch einmal betont: das Anknüpfen an die 1920er Jahre bedeutete für die Schulgründung 1991 wie für den dann entwickelten „neuen Jenaplan“ einen ständigen und umfassenden Prozess produktiv-kritischer Auseinandersetzung mit dem historischen Jenaplan. Dieser war dabei nur eine – wenn auch wichtige – Quelle für unsere Arbeit. Selbstverständlich hat sich die Schule darüber hinaus mit den heutigen Erkenntnissen der Lern- und Bildungsforschung und mit den Erfahrungen anderer „guter Schulen“ auseinandergesetzt und ihre eigene Arbeit durch wissenschaftliche Begleitung und Evaluation ständig auf den Prüfstand gestellt.
Worin stimmen nun Petersens „Jenaplan“ und der „neue Jenaplan“ überein? Wo ist das eine aus dem anderen hervorgegangen und hat so zu dem geführt, was wir als unser „Schulkonzept“ bezeichnen?
Erstens: Jenaplan-Schulen sollten stets Schulen für alle Kinder unabhängig von ihrer Begabung und sozialen Herkunft sein. Sie sollten neben lernstarken und begabten auch lern- und körperbehinderte Kinder, verhaltensauffällige Schüler oder Schüler mit problembelasteten Schulbiographien einschließen. Das ist ein Prinzip unserer Schule, das wir vom historischen „Jenaplan“ übernommen haben. Alle Schüler lernen gemeinsam und ohne äußere Differenzierung sowohl in jahrgangsgemischten als auch jahrgangsgleichen Gruppen. So wie auch Petersen in seinem „kleinen Jenaplan“ beschreibt, musste sich die Jenaer „Jenaplan-Schule“ von Anfang an auf die Verschiedenheit in den Lerngruppen einlassen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Individualität erkennen und ihnen ganz persönliche Lernwege ermöglichen. Diese Sicht auf das einzelne – stets im Mittelpunkt pädagogischer Praxis stehende – Kind wird durch die Jahrgangsmischung gewissermaßen erzwungen. Sie lässt das erkennen, was Petersen den „Bankrott der Jahrgangsklasse“ nannte. Damit geht die Jenaer „Jenaplan-Schule“ über die öffentlich bekannten Konzepte einer – auch integrierten – „Gesamtschule“ weit hinaus. Wichtig ist dabei folgende Erkenntnis: Die Jahrgangsmischung und das gemeinsame Lernen höchst unterschiedlicher Begabungen wirken nicht nivellierend, sondern leistungssteigernd, weil alle Kinder frei ohne vordergründigen Konkurrenzdruck – sonst hervorgerufen durch Einstufungen und Platzierungen – lernen und sich gegenseitig anregend fördern können.
Zweitens: In einem ritualisierten Wochenrythmus bilden die Schüler unserer Schule Lern- und Arbeitsgruppen, die ihrem jeweiligen Lernweg und Lerntempo entsprechen. Diese bereits im historischen „Jenaplan“ entwickelte Struktur gibt ihnen die Möglichkeit, schon mit der Unterrichtsgestaltung „Demokratie zu erfahren“: Sie wählen, angeleitet durch ihre Lehrer, Arbeitsschwerpunkte und entsprechende Lerngruppen, entscheiden über ihre Arbeitszeit, wählen Lernstoffe und Darstellungsformen für Präsentationen vor Mitschülern aus und schätzen schließlich ihre Leistung sowie die ihrer Mitschüler ein. Dieses von Petersen als „gruppenunterrichtliches Verfahren“ bezeichnete Prinzip bildet ein Kernstück unserer Arbeit.
Drittens: Weitgehende Übereinstimmung besteht auch in dem, was Petersen in seinem „Kleinen Jenaplan“ zur Bewertung und zur Zensur sagte – Zitat: „Die Gefahr der Zensur durch den Lehrer kann als nicht groß genug bezeichnet werden. Sofort befördert sie die Einstellung des Lernens auf den Lehrer und verdirbt die eigene Arbeitslinie des Kindes und verstört das eigene sittliche Urteil, die Sicherheit der eigenen Stimme im Kinde.“ Heute verlangen Ministerien und Gesellschaft Noten. Aber wir achten und anerkennen die individuelle Anstrengung und Leistung, das vom Schüler Erreichte mehr als seine Defizite, weil – um mit Petersen zu sprechen – „das Kind eine Sicherheit im eigenen Wachstum und Fortschritt braucht“. Das Ergebnis jahrelanger Praxis mit unterschiedlichsten Methoden zeigt: auf diese Weise werden – je nach Vermögen – Leistungen besser gefördert als durch Noten, die wir – wie von uns verlangt – ab dem 7. Jahrgang auch geben – aber verbunden mit ausführlichen verbalen Einschätzungen und Bewertungen des Arbeitsprozesses sowie der Anstrengungsbereitschaft.
Soweit zum Verbindenden. Was trennt uns nun von Petersen bzw. von dem, was er in seinen „Jenaplan“-Schriften missverständlich ausgedrückt hat und das so Deutungsspielraum in negativer Hinsicht zulässt? Ich greife vier Punkte heraus.
Erstens: Für uns sind „Bildung und Erziehung“ gleichwertig. Petersen sprach von einem „Primat“ oder gar „Erstrang“ der Erziehung und von einer gesellschaftlichen Rolle, die dem Kind „seinem Stande nach“ zugewiesen und in der es zu erziehen sei. Das lehnen wir grundsätzlich ab.
Zweitens: Auch die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft verwenden wir anders als Petersen. Wir sehen in Gemeinschaften entwicklungsbedürftige Formen des Zusammenlebens, an denen alle ständig arbeiten müssen, um sie als wertvolles menschliches Gut zu erhalten. Niemand soll sich unterordnen, ein jeder mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen. Dadurch können sich Individualitäten und Persönlichkeiten frei entwickeln. So entstehen Motivation und Gestaltungswillen. Eigentlich beschrieb Petersen in seinen „Jenaplan“-Schriften auch ein solches Verständnis von Gemeinschaft als freier Entfaltung des „Schüler-Ichs“, nicht seiner Unterordnung. Aber er fasste das in das Bild, eine „Gemeinde Freier“ müsse sich um einen „Führer“ scharen. Das war – ebenso wie der in der Weimarer Zeit weit verbreitete und auch von Petersen verwendete „Volksgemeinschafts“-Begriff – nicht im Sinne späterer NS-„Gemeinschafts“- und „Führerideologie“ gemeint, gab und gibt aber immer wieder Anlass, es so zu interpretieren und Petersen ein durchweg „völkisches“ Denken zu unterstellen.
Drittens: Von Petersens Begriff des „Führer-Kindes“ trennen uns die Begrifflichkeit und das pädagogische Denken. Der Gedanke „charismatischer Führer“ unter den Schülern verträgt sich nicht mit den Prinzipien „gemeinschaftlichen Lernens“ und „gruppenunterrichtlichen Verfahrens“. Nach unserem Verständnis sollten nicht einzelne – charismatisch auftretende -, sondern viele Kinder und Jugendliche verantwortungsvolle Aufgaben erhalten. Nur so wachsen Respekt und Achtung vor den Leistungen anderer und bewirken ein konzentriertes Zuhören in allen pädagogischen Situationen – während des Unterrichts, bei Präsentationen und in Feiern. Erst so kommt ein auf Verschiedenheit in den Lerngruppen beruhendes gesundes Mischungsverhältnis wirklich positiv zum Tragen.
Viertens: Die „Jenaplan-Schule“ Jena sieht schulische Gemeinschaft als Teil der Gesellschaft. Sie will ihre schulische Gemeinschaft nicht aus der Gesellschaft herauslösen, sondern sich mit ihr auseinandersetzen, sie gestalten und – wenn nötig – verändern. Deshalb sind für die „Jenaplan-Schule“ das soziale und politische Umfeld wichtige außerschulische Lern- und Gestaltungsbereiche. Petersen hingegen trennte Gesellschaft und Gemeinschaft.
Verbindendes und Trennendes – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wie man auch immer zu Petersens Gedankenwelt steht. Eines ist unbestreitbar: sein pädagogisches Denken und Handeln ermöglichte in den 1920er Jahren ein innovatives und international ausstrahlendes Schulmodell als Kind der Weimarer Republik und des wissenschaftlichen „Aufbruchs nach 1918“. Es kann bis heute zu alternativen und zukunftsweisenden Schulmodellen anregen. Dafür steht unsere bisher 19jährige Schulentwicklung. Sie hat eine selbstbewusste und inzwischen bundesweit und darüber hinaus bekannte Schule wachsen lassen. Diese Schule zieht seit Jahren wöchentlich und täglich nicht nur einzelne Interessierte, sondern viele angemeldete Gruppen von Pädagogen und Schulpolitikern zur „Hospitation“ an. Die mitunter auch kritischen, für uns aber stets sehr hilfreichen „Besucher-Evaluationsbögen“ enthalten überwiegend Eindrücke wie – ich zitiere:
dass Schüler „Freude am leistungs- und ergebnisorientierten Lernen“ haben,
dass individuelle Benotung möglich ist,
dass der Umgang der Schüler miteinander durch viel Respekt geprägt ist,
„engagierte Lehrer“, die wertschätzend mit den Schülern umgehen„
„offene Türen“ im gesamten Schulhaus,
„Nutzen vielfältiger Lernorte“,
„Ruhe beim selbständigen Arbeiten“ –
vor allem aber „wie überraschend gut das jahrgangsübergreifende Arbeiten funktioniert“.
Die Schule hat also offenbar im Sinne ihres Konzeptes „Erfolg“. Und der verpflichtet: die Schule mit all ihren Beteiligten, aber auch Schulträger, Kommune, Schulamt, Ministerium. Wenn neuerdings oft von einer „Krise des staatlichen Schulsystems“ gesprochen wird und „freie alternative Schulen“ nur noch im Bereich der Privatschulen vermutet werden, so kann das – ins Positive gewendet – nur heißen: diejenigen Schulen entschieden zu fördern, die innerhalb des staatlichen Schulsystems genau diese „freien alternativen“ Ansätze verkörpern. Das Thüringer Schulgesetz bietet dafür gute Voraussetzungen. Und die neue Koalitionsvereinbarung lässt hoffen, man befinde sich auf dem richtigen Weg.
Ich komme zum Schluss:
Unsere Jenaplan-Schule begann 1991 als „staatlicher Schulversuch des Freistaats Thüringen“ mit dem Ziel, ihre Erfahrungen und Ergebnisse in die allgemeine Schulentwicklung wirksam einzubringen. Ohne den historischen „Jenaplan“ der 1920er Jahre gäbe es diese Schule nicht. Das drückt ihr Name aus. Aber er steht nicht nur für diesen Rückbezug auf die Weimarer Zeit, sondern auch und vor allem für das, was seit der Schulgründung nach der friedlichen Revolution von 1989 gewachsen ist und nun als „neuer Jenaplan“ bezeichnet wird. Diese Zusammenhänge gebieten Respekt vor dem Werk des Reformpädagogen Peter Petersen. Von Petersens Schriften mit antisemitischem und rassistischem Inhalt aus der NS-Zeit distanzieren wir uns ebenso entschieden wie von seinem gesamten politischen Verhalten nach und zum Teil bereits schon vor 1933. Das heißt, von seinen zeitweise engen Beziehungen zu „völkischen Kreisen“, seinen Bündnissen mit den NS-Rektoren, seinen Vorträgen vor NS-Organisationen und im KZ Buchenwald. Daran ist nichts zu relativieren und zu entlasten. Dazu verpflichtet auch unsere Auszeichnung als „Schule ohne Rassismus, Schule für Courage“. Aber man kann die „Petersen-Debatte“ weder auf die Rolle Petersens in der NS-Zeit einengen, noch von einem „Zerrbild Petersen“ aus führen: vom Zerrbild eines „NS-Propagandisten“ etwa, der ansonsten nichts geleistet habe oder eines „’Volkserziehers’ in zwei Regimes“, wobei mit dem zweiten offenbar das SED-Regime gemeint ist, das seit 1948 eine Kampagne gegen Petersen führte und 1950 seine Schule als „reaktionäres Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ schloss. Das führt auf Irrwege. Eine vernünftige, hilfreiche und „reinigende“ Debatte muss sich auf das Gesamtwerk und -verhalten Petersens beziehen und sollte sich jenseits simpler Rollenverteilung – Ankläger, Verteidiger, Verdränger – vollziehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!